Eröffnungsrede von Bundeskanzler Viktor Rossi am Swiss Smart Government Day vom 16. September 2025 in Zürich – Digitale Transformation der öffentlichen Verwaltung: innovativ, aber bitte ohne Risiken?
Sehr geehrte Damen und Herren, stellen Sie sich vor, es gäbe bei der Verwaltung einen Schalter … und niemand geht hin.
Sie ziehen in eine neue Gemeinde und erledigen den gesamten administrativen Aufwand digital in wenigen Minuten – ohne Gang zum Einwohneramt und ohne Papierkram. Oder Sie wollen heiraten und Ihren Namen ändern. Stellen Sie sich vor, Sie könnten das mit einem einzigen Klick in die Wege leiten – und alle ihre Ausweise und Dokumente würden kurze Zeit später digital aufs Handy geschickt. Oder – noch etwas gewagter – Sie müssten erst gar nichts dafür tun, die Behörden erledigen alles ohne Ihr Zutun. So würde beispielsweise auch Ihre Steuererklärung bereits fixfertig ausgefüllt – Sie müssten nur noch kontrollieren und freigeben.
Noch vor wenigen Jahren hätte ich diese einleitenden Worte als Vision bezeichnet. Heute sind wir – was einen digital innovativen Staat angeht – irgendwo zwischen Vision und Realität. Dank den Anstrengungen, die Gemeinden, Kantone und der Bund in den vergangenen Jahren unternommen haben, ist das Angebot an digitalen Behördenleistungen bereits erheblich gewachsen. Das neue Digitalgesetz EMBAG[1] hat zusätzlich Schub geliefert.
Wahrscheinlich ist dieses Digitalgesetz EMBAG mit dem sperrigen Titel «Bundesgesetz über den Einsatz elektronischer Mittel zur Erfüllung von Behördenaufgaben» nicht allen ein Begriff. Ich verüble es Ihnen auch nicht. Als Bürgerin oder Bürger sind Sie Kunde und wollen einen guten Service. Wenn Sie in ein Restaurant gehen, müssen Sie auch nicht wissen, wie die Küche aussieht, Hauptsache das Essen schmeckt.
Das EMBAG ist ein wichtiger Schritt für die digitale Behördenküche. Es verpflichtet den Bund beispielsweise zu Interoperabilität und elektronischen Schnittstellen. Der Bund ist gehalten, Dienste gemeinsam zu nutzen und er muss seine Software als Open Source der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen.
Es geht also vorwärts. Aber was hindert uns noch – auf dem Weg zum digital innovativen Staat richtig durchzustarten?
Sie sehen hier den Blick vom Eingangsbereich im Parlamentsgebäude in Bern hoch zur Kuppel. Dort befindet sich dieses wunderschöne Bild aus Mosaik und Glasmalerei, das unseren föderalen Staatsaufbau zum Ausdruck bringt.[2] Der Schweizer Föderalismus ist eine Errungenschaft, die unser Land über die Jahre stabil und widerstandsfähig gemacht hat. Für die digitale Transformation sind unsere föderalen Strukturen jedoch auch eine Herausforderung: Unterschiedliche Systeme, fehlende Standards, mangelnde Schnittstellen und eine tiefe Verbindlichkeit. Dieser Mix bremst die Entwicklung. So werden dann zum Beispiel die unterschiedlichen Formate mit denen Daten übermittelt werden zum Stolperstein, wie wir bei den letzten Eidgenössischen Wahlen gesehen haben.[3] Drei Kantone lieferten die Daten in einem anderen Format als die übrigen. Eine fehlerhafte Programmierung im Datenimportprogramm für diese drei Kantone führte zu einem Fehler bei der Berechnung der nationalen Parteistärken.
Die Schlagzeilen von damals zeigen: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Die erste politische Reaktion war hart: Der Staat beweist ein weiteres Mal, dass er IT nicht kann. Erst in einem zweiten, etwas nüchternen Schritt diskutierte man über die Bedeutung von verbindlichen Standards. Der Bund kann heute Standards nur für Bundesbehörden verbindlich erklären und nicht für Kantonsbehörden. Eine solche Verpflichtung im vorhin erwähnten Digitalgesetz EMBAG lehnten die Kantone ab.
Der Föderalismus ist aber auch eine grosse Chance für Innovationen. Er ermöglicht uns, neue digitale Lösungen im kleinen Rahmen schneller zu erproben und schrittweise zu verbessern. Die Kantone und Gemeinden als das berühmte Versuchslabor der Schweiz, in denen Innovationen entwickelt, getestet und optimiert werden. Der Kanton Appenzell Ausserrhoden hat beispielsweise in Zusammenarbeit mit dem Bund ein Pilotprojekt realisiert für einen digitalen Fahrausweis.[4] Dank diesem können junge Menschen – ihren Lernfahrausweis digital auf dem Smartphone erhalten. Bis Ende Jahr soll der digitale Lernfahrausweis in der ganzen Schweiz zur Verfügung stehen.
Und dafür wird man dann in den Medien zur Abwechslung als Vorreiter gelobt. Es gibt in den Kantonen, Gemeinden und beim Bund viele solche guten Beispiele von Innovation – auch ohne Schlagzeilen.
Der Föderalismus kann also sowohl Hindernis als auch Treiber sein. Ich möchte hier insbesondere die Organisation DVS, Digitale Verwaltung Schweiz, erwähnen. Sie soll dafür sorgen, dass der Föderalismus auf allen Stufen vor allem zweiteres, zum Treiber, wird.
Die Grundlagen sind da, es geht etwas. Wieso also ist der Staat nicht noch innovativer?
Es hat zu einem guten Teil mit dem Wesen und der Aufgabe der Behörde, des Staates, zu tun.
Ronald Reagan sprach berühmterweise über die seiner Meinung nach furchterregendsten Worte, die man als Bürger hören könne: «Ich bin von der Regierung und möchte Ihnen helfen.»
Ronald Reagan hat diesen Spruch natürlich nicht auf die Schweiz, sondern auf die US-Regierung bezogen. Was der ehemalige US-Präsident damit auch meinte – und was wir auch in der Schweiz kennen: Private, die Wirtschaft, die Unternehmen und die Forschung sind die primären Treiber der Innovation. Der Staat hat für gute Rahmenbedingungen zu sorgen und erstere in Ruhe arbeiten lassen. Eben nicht: «I’m from the government and I’m here to help.» Diese Kernaufgabe des Staates scheint mir unbestritten. Aber nur solange, als wir dies nicht als Ausrede verwenden, um nicht als Staat auch nach Innovation zu streben.
Damit Behörden besser vom hierzulande vorhandenen Digital-Knowhow profitieren können, organisiert die Bundeskanzlei beispielsweise seit 2023 sogenannte GovTech-Innovationsbörsen. Start-ups sind eingeladen, ihre Lösungsideen zu Herausforderungen der Bundesverwaltung zu präsentieren. Ein Ergebnis aus diesem Jahr: Ein spezialisiertes Start-Up zeigt in einem Proof of Concept, wie KI die Bundeskanzlei bei der Auswertung von Stellungnahmen aus Konsultationen unterstützen kann. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen wir mit den sogenannten GovTech-Hackathons: Profis aus Wirtschaft, Forschung und Verwaltung kommen zusammen und lösen während 48 Stunden gemeinsam konkrete Probleme. Ich war letztes Mal vor Ort und beeindruckt, was in der kurzen Zeit alles möglich wurde.
Zum Beispiel hat ein Team für das Bundesamt für Energie einen Prototypen entwickelt, mit dem basierend auf Schneereserve-Daten die Kapazität von Stauseen genauer berechnet werden kann.
Das Format des Hackathons eignet sich aber nicht nur als offenes Format für Innovationen, sondern es kann auch gezielt für Vorhaben eingesetzt werden: Am 31. Oktober und 1. November organisiert die Bundeskanzlei einen zweitägigen Hackathon zu E-Collecting[6] – ich bin schon jetzt sehr gespannt auf die Resultate.
Innovative Ansätze sind also da. Warum werden die vielen innovativen Geister in der Verwaltung – und davon gibt es nicht wenige – nicht von der Leine gelassen?
Der Staat ist auf das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Sie haben keine «Konkurrenzbehörde», zu der sie ausweichen könnten. Der Staat operiert auch nicht mit eigenem Geld, sondern mit Steuergeldern; dem Geld der Bevölkerung und der Unternehmen. Diese erwarten zurecht, dass der Staat sorgfältig damit umgeht. Der Staat ist ihre Firma.
Das führt dazu, dass man beim Staat in der Tendenz Fehler meidet und Risiken scheut. Und auch wenn alle gerne von Fehlerkultur reden: Wenn ein Projekt scheitert, suchen die meisten zuerst einmal einen Schuldigen, um mit dem Finger auf ihn zu zeigen. Wir wollen einen hochinnovativen Staat, aber wehe etwas geht schief.
Sie kennen vielleicht den Ausdruck «den Fünfer und das Weggli» zu wollen. Beides geht nicht. Man kann nicht alles haben. Einen innovativen Staat gibt es nicht risikofrei. Wer einen innovativen Staat will, muss im zugestehen, Risiken einzugehen. Und Fehler müssen möglich sein. Dabei geht es nicht um fahrlässige Fehler, sondern ehrliche Misserfolge. Man versucht und probiert etwas aus, wagt etwas, im guten Willen – und darf auch scheitern. Nehmen Sie beispielsweise den ersten Versuch für eine E-ID, die elektronische ID. Das Stimmvolk hat eine erste Vorlage 2021 abgelehnt; zu einem guten Teil, weil es eine private E-ID nicht wollte. War dieser erste Anlauf ein Fehler? War das Geldverschwendung?
Ich weiss es nicht. Aber ich weiss, dass der Bundesrat und die Verwaltung ernsthaft bemüht waren, aus dem ersten Anlauf zu lernen und die Vorlage im Sinne der kritischen Stimmen zu verbessern. Die E-ID wird nun beispielsweise – und das war ein grosser Kritikpunkt der ersten Vorlage – vom Staat und nicht von Privaten ausgestellt. Die Datenspeicherung ist dezentral, was den Datenschutz erhöht und den Nutzerinnen und Nutzern die grösstmögliche Kontrolle über ihre Daten gewährleistet.[7] Das Stimmvolk kann nun beurteilen, ob dieser zweite Anlauf gelungen ist.
Innovation ist auch eine Führungsfrage, sie muss von ganz oben echt gewollt sein. Es stimmt mich optimistisch, dass die Mehrheit des schweizerischen Parlaments will, dass der Staat innovative Ansätze ausprobieren soll, die durchaus auch scheitern dürfen. Es gibt eine grösser werdende Zahl von Parlamentarierinnen und Parlamentariern, die aus eigener Erfahrung wissen, dass «scheitern dürfen» zur digitalen Transformation gehört. So hat das Parlament im Digitalgesetz EMBAG einen eigenen Gesetzesartikel für Pilotversuche geschaffen. So kann niemand mehr sagen, es gäbe keine gesetzliche Grundlage, innovativ zu sein. Mit diesem Gesetzesartikel für Pilotversuche kann die Bundesverwaltung den technologischen Vorsprung besser nutzen. Sie kann beispielsweise eine neue innovative Lösung testen, bevor rechtlich schon jedes Detail geregelt sein muss.
Die digitale Verwaltung ist kein Selbstzweck. Sie soll das Leben der Menschen und Unternehmen in der Schweiz erleichtern. Der digitale Schalter – und damit schliesse ich den Kreis zu meinen einleitenden Worten – ist dem physischen Schalter in vielen Bereichen überlegen, macht vieles einfacher und bietet neue Möglichkeiten. Nicht zuletzt ist er 24 Stunden erreichbar. Die Schweiz ist ein digital wichtiger Standort, und trotzdem tun wir uns schwer mit «digital only». Damit Sie mich richtig verstehen: Insbesondere im Bürgerkontakt gibt es unbestrittene Gründe, weshalb die Bevölkerung das Recht haben muss, Behördenleistungen auch weiterhin analog in Anspruch nehmen zu können. Das gilt nicht nur für demokratische Ur-Prozesse wie die eidgenössischen Abstimmungen und Wahlen: Zur Urne kam zuerst der briefliche Kanal und nun im Versuchsbetrieb das E-Voting. Wir leisten uns also drei Stimm- und Wahlkanäle. Dies ist für solch zentrale Prozesse nicht in Frage gestellt.
Aber wie sieht es bei Prozessen zwischen den Unternehmen und Behörden aus? Ich denke da beispielsweise an die Gründung einer Unternehmung, die Meldung von Kurzarbeit, das Ausfüllen und Einreichen von Steuererklärungen. Wollen wir uns da weiterhin überall mit «digital first» zufriedengeben? Oder sollen wir in dieser Frage nicht etwas mutiger sein? «Digital only» kann auch ein Impuls sein, die digitale Transformation weiter voranzutreiben. Die Unternehmen wiederum profitieren von automatisierbaren digitalen Leistungen ohne Medienbrüche und 24x7 Erreichbarkeit.
Bevor wir hier nun alle in eine tiefe Depression verfallen: Wir stehen weder am Anfang noch sind wir am Ziel des digital innovativen Staates.
Wir befinden uns auf gutem Weg.
Wenn wir auf dem Jakobsweg wären, würde ich sagen: Santiago de Compostela ist nicht mehr weit. Nicht zuletzt bin ich optimistisch, wenn ich die vielen kompetenten und mutigen Menschen in der Verwaltung sehe, die Fehlerkultur nicht nur predigen, sondern fördern und hinstehen. Die bereit sind, Fehler im Sinne eines «Trial and Error» zu machen. Und Vorgesetzte bis hinauf zum Bundesrat, die ihnen den Rücken stärken. So entstehen innovativere, bessere Lösungen für alle «Aktionäre des Staates»: Bevölkerung und Unternehmen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Quelle: Die Schweizerische Bundeskanzlei - die Stabsstelle des Bundesrates BK
19.9.2025